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Tuesday, January 24, 2017

Die Magie der Rituale


Der Karneval derRollenspiel Blogs für den Januar 2017 beschäftigt sich mit dem Thema„Verwunschen & verzaubert“. Ich habe mir vorgenommen auch wieder etwas beizutragen und nehme das Thema zum Anlass zu meinem aktuellen Lieblingsthema (magische) Rituale beim Rollenspiel beizutragen. 

Spätestens seit meinem Besuch bei der Knutepunkt / Solmukohta Konferenz 2016, aber auch durch die Beschäftigung mit Spielen wie Monsterhearts, Skeletons oder Ten Candles sind Rituale als Spielintensität förderndes Element für mich die spannendste Herausforderung für den Spieltisch. 

Ich möchte in diesem Artikel die magische Wirkung von kleinen und großen Ritualen auf das Spiel anhand von Beispielen vorstellen, von meinen Erfahrungen erzählen und Umsetzungsideen auch für eher traditionelle Runden nennen. 
 

Saft, Kraft, Monstermacht

Das erste mir untergekommenes Beispiel eines in einem Regelheft verankerten Rituals ist interessanterweise auch direkt und unmittelbar mit Magie verknüpft. Es handelt sich um die in DSA1 und DSA2 verankerten Zauberformeln. Zumindest bei DSA1 wird explizit gefordert, dass die Zauberformel korrekt und vollständig ausgesprochen wird. „Ecliptifactus Dunkle Macht, Kampfgefährte aus der Nacht“, „Blitz dich find, werde blind“ und „Motoricus Motilitich, leblos Ding bewege dich“ wurde in den 80ern und 90ern an vielen Spieltischen gestolperreimt. 
Ja, das bin ich. Und ich habe auch in Reimen gesprochen.

Oft und ausgiebig wurde sich über diese Eigenart bei DSA lustig gemacht. Auch ich fand die Zauberformeln und vor allem die Anweisung erst noch eine ganze Weile albern, dann habe ich sie zumindest in geschriebener Form nostalgisch verklärt. Inzwischen sehe ich das kleine Ritual des Aussprechens der Formel mit anderen Augen. Magie ist etwas Außergewöhnliches und sicher jedes Mal Unheimliches in Aventurien. So sollte es auch am Spieltisch sein. Das Sprechen der Formel gibt diesem Aspekt eine besondere Bedeutung. 

Seit einigen Jahren sind die Zauberformeln in ernsterer Form an den Spieltisch meiner Hauptrunde zurückgekehrt. Wieder waren es DSA Produkte, die dafür gesorgt haben. Die Reihe der Götter-Vademeca enthielt für Geweihte der Zwölfgötter zu ihrer Gottheit passende Gebete für Mahlzeiten bis hin zur Tempelweihung. In passenden Spielsituationen spricht daher der Spieler der Boron-Geweihten (oder zuvor die Efferdgeweihte) eins ihrer Gebete aus ihrem Büchlein – abgeschlossen von einem mit der gesamten Runde gemeinsam gesprochenem „So sei es“ – dem aventurischen „Amen“.
Inzwischen gibt es aber noch ganz andere Formen von Ritualen, die Designer*innen in ihre Konzepte eingebaut haben - dazu später. Zunächst möchte ich wenigstens kurz anreißen, was ich mir unter Ritualen im Spiel vorstelle.

Die magische Wirkung von Ritualen

Daumen drücken hilft. Oder ist das ein neuer Resolution mechanism?
Rituale im Spiel haben die gleiche Wirkung wie im Alltag. Gemeinsame Rituale wirken Gemeinschaft stärkend, generieren ein Gruppenbewusstsein und dass wir in denselben Takt kommen, sorgen dafür, dass wir uns aus unserem sonstigen Alltag lösen und auf die „Sache“ konzentrieren. Rituale im Alltag geben Sicherheit und Selbstvergewisserung. Sich zur Begrüßung die Hand zu geben, einer Fußballmannschaft die Daumen drücken, sich Glück wünschen für eine Prüfung, eine Grabrede halten, Eheringe austauschen, eine Gute Nacht Geschichte erzählen – das sind Alltagsrituale. Natürlich sind die Grenzen zu anderen Handlungsformen fließend (Marotte, Konvention, indirekte Kommunikation,…) und auch ein explizites Ritual kann viele weitere Bedeutungsebenen enthalten. Es wird aber wohl nur unter größter Mühe gelingen einen Tag unter Menschen ohne das Partizipieren irgendeines Rituals zu verbringen. 

Auch ein Ritual: Kaffeepause
Ich bin kein Ethnologe und verlasse daher schleunigst dieses Minenfeld der korrekten Definition von fachfremden Begriffen. Für den Spieltisch traue ich mir jedoch zu, noch etwas mehr zu formulieren.

Im nächsten Abschnitt interessieren mich vor allem ins Spieldesign integrierte Rituale. Daher nutze ich noch kurz die Gelegenheit, um ein paar typische Rituale, die ich von diversen Runden kenne, zu nennen.

Der Klassiker per se ist sicher jedes „seltsame“ Verhalten mit den hochheiligen Spielgeräten – den Würfeln. Ob diese tatsächlich angespuckt werden oder dies nur angetäuscht wird (wir wollen es hoffen), ob ihnen vor wichtigen Würfen geschmeichelt oder gedroht wird, ob bestimmte Würfel ausschließlich für bestimmte Würfe zum Einsatz gebracht werden dürfen, das ist die große Magie, der sich selbst die großen naturwissenschaftlichen Naturen mit Leidenschaft hingeben. 

Ob das Lied irgendwer erkennt? Ist Rock.
Auch das Daumen drücken und andere Formen des sich Glück wünschen für wichtige Würfelwürfe sind Klassiker. Einige Runden spielen zu Spielbeginn in erhabener Ruhe ein Auftaktlied von der Stereoanlage ab – eine Art Titelmusik – die alle in die richtige Stimmung bringen soll. Für eine Kampagne haben wir einst ein bekanntes Lied umgetextet und statt Konserve selbst zum Session Beginn gesungen.  Im gleichen Sinne werden oft zu Spielbeginn die Lichtverhältnisse verändert. Wir haben eine Weile auch gerne mal ein Räucherstäbchen entzündet oder eine besondere Kerze angezündet.

Jetzt die Schwarte zuklappen. Abend zu Ende.
Beliebt scheint mir auch ein magischer, ritualisierter Umgang mit den Charakterbögen zu sein. Dazu gehört, wer diesen anfassen darf, was auf diesen „permanent“ notiert wird und was nur auf Schmierzetteln und wie mit verbrauchten Charakterbögen umgegangen wird. Bei gespielten Kaufabenteuern hat mir als SL immer sehr gut gefallen, das Buch zum Ende des Abenteuers theatralisch zuzuklappen (bei den 300 Seiten Brocken von DSA besonders zu empfehlen…).

Rituale im Design

Im Regeldesign verankerte Rituale sind mir allerdings bei den traditionell ausgerichteten Spielen wie DSA, Splittermond oder D&D nicht mehr untergekommen (übrigens scheint mir auch Fate Core komplett ritualfrei zu sein). Ich lasse mich dahingehend gerne korrigieren, vermute aber mal, dass das an der Diversität der Runden dieser Systeme liegt, die sehr unterschiedliche Spielarten beinhaltet. Da will ein System niemanden vergraulen.

Im Indie-Bereich hingegen gibt es viele interessante Ansätze, Ritualen auch im Design wieder größeren Raum zu geben. Einige Story Games verschreiben sich sogar explizit, innovative Rituale zentral ins Design einzubinden. 

Spannende Ansätze zu Ritualen aus dem Nordic Larp
Rituale können im Design recht versteckt sein. Für mich ist etwa die in Powered by the Apocalypse (PbtA) Spielen verlangte Formel am Ende jedes MC-Moves „always end with: what do you do“ eindeutig ein Ritual. Auch einige der MC-Prinzipien sind versteckte Rituale, etwa dass die Spieler*innen immer und ausschließlich mit ihrem Figuren-Namen angesprochen werden sollen, sobald man spielt und dass Moves nie bei ihrem Namen genannt werden sollen.
Monsterhearts geht einen Schritt weiter lässt das Spiel mit einem Ritual beginnnen: reihum werden die Beschreibungstexte der einzelnen Playbooks vorgelesen: 

To familiarize yourselves with all of the Skins, pass them out amongst the players, then take turns reading the descriptive text aloud. Read it in a melodramatic, over-the-top voice. This step is important! Reading these Skins aloud will serve as an icebreaker for the group, helping them to move beyond their bashful, adult uncertainty and into the world of teen monster melodrama. – Monsterhearts 1st edition, Joe Mcdaldno

Der Effekt in meiner Runde war enorm. Natürlich kommt einem das erst einmal albern vor. Ist die natürliche Scheu aber einmal überwunden und macht man sich bewusst, dass von außen betrachtet so mancher Teil des Hobbys nicht ernst zu nehmen ist (und dass die „Champions League Hymne“ vor einem kommerziellen Fußball-Event zu singen auch einen gewissen Grad von durchaus beschwingender Debilität besitzt), dann erreicht man genau den von der Monsterhearts Autorin Avery Alder erhofften Effekt: befreit startet die Runde in ein Genre, bei dem man intimer als üblich in die Hauptrollen der erzählten Geschichte tauchen möchte. 

Rituale: Übereinanderlegen von Wirklichkeitsschichten
In Matthijs Holters Archipelago gibt es gewisse Phrasen, mit denen die Spieler*innen Einfluss auf die Geschichte nehmen können. Zum Beispiel „Try it a different way“, wenn man mit dem von jemand anderem erzählten Fortgang nicht zufrieden ist (es etwa ernster oder seichter haben möchte). Das läuft für mich ebenfalls unter „Ritual“, da diese Phrasen in ihrer institutionalisierten Form auch enthemmen von der Sorge, dass ein Eingriff unpassend sein könnte und dass alle Seiten wissen, „dass das zum Spiel dazu gehört“. 

Wie auch John Stravopolous X-Card oder die im Larp üblichen Cut und Break helfen diese im Vorhinein vereinbarten Kommunikationssignale eine komplexe Botschaft zu komprimieren und Missverständnisse im Spiel zu vermeiden. Die Ritualisierung sorgt auch für eine Normalisierung und das gemeinsame Wissen, dass diese Eingriffe eine freundschaftliche Note haben, erlaubt uns im Spiel weiter zu gehen als ohne diese Rituale.

Ein anderes Rollenspiel verlangt, dass wenn eine Figur stirbt, dass das Charakterblatt der Figur feierlich zerrissen wird. Die magische Kraft der tatsächlichen Zerstörung und sei es nur ein Symbol ist ein kaum unterschätzbare Form der Ritualisierung von Spielelementen. In Ten Candles von Stephen Dewey werden Konzepte, die zu Ende erzählt sind, an einer Kerze in Flammen gesetzt und für Verstorbene (wenn ich mich nicht täusche) eine von den namensgebenden Kerzen gelöscht. Bei Epidiah Ravachols Dread, das als eigentlich übersimplen Auflösungsmechanismus einen Jenga-Turm nimmt, aus dem man Blöcke zieht, ist der potenzielle Kollaps des Turms, der metaphorisch an den eigenen Fingerspitzen hängt und zwischen den da Spiel führenden Emotionen Hoffnung und Horror entscheidet. 
Wikinger-Ritual oder Unsinn in Helsinki-Kneipe?

Jason Morningstar, vor allem durch Fiasco bekannt, hat in jüngster Zeit viel mit Ritualen experimentiert. In Skeletons spielt man untote Skelette, die in einem Dungeon auf Eindringline warten und über ihr Schicksal sinnieren. Um die unendliche Zeit des Wartens zu repräsentieren, wird zwischen den Encounters das Licht ausgemacht und eine zuvor festgelegte Zeit in der Dunkelheit gemeinsam am Spieltisch gewartet – eine Minute kann lang sein. Bei Fiasco wird zum Epilog jeweils einer der Würfel, die man vor sich liegen hat rituell in die Höhe gehalten und ein Satz zum zukünftigen Schicksal der eigenen Figur mit den Worten „This is [my character]…“ begonnen. 

Gemeinsam mit Ole Peder Giaever, der auch Itras By herausgebracht hat, hat Morningstar ein Spiel namens Old Friends geschrieben, bei dem mit einer Maske die Anwesenheit eines Geists dargestellt wird. Das Aufsetzen der Maske ändert nicht nur für die anderen sondern auch für einen selber die Perspektive. Wer hätte gedacht, dass die Maske des Meisters von 1984 einmal so ein Comeback feiern würde? 

Wiederholung ist ebenfalls eine starke Kraft, um ein bestimmtes Empfinden zu verstärken. Wie Märchen immer mit der gleichen Phrase beginnen und enden („Es begab sich einst…“ / „und wenn sie nicht gestorben sind…“), so kann ein Ritual der Eröffnens und Schließens enorm zur Immersion beitragen. 

Das Cafè Sarabande
Beim Larp Café Sarabande beginnt jede Szene mit einem Musikstück, zu dem jede Figur eine für sie typische Szene (in Aktion mit anderen) darstellt – ähnlich wie das Intro einer Vorabendserie. Die Spieler*innen sind angehalten je nach Verlauf der Geschichte kleine Varianten zu ändern, aber doch das Grundmuster beizubehalten. So habe ich als Wissenschaftler zuerst freudig, dann immer verbitterter mit einem Kollegen an einer Tafel diskutiert. Der andere Spieler und ich hatten somit die Chance uns immer wieder zu synchronisieren, wie die Beziehung der Figuren zueinander ist. Bei For here our sister lies von Shoshana Kessock beginnt jede Szene mit einem schweigenden Zirkel der Ratsältesten des Amazonas Volkes, das wir verkörperten während die Spielleitung die eröffnenden Worte der Ratssitzung sprach. 

Technologie ist ebenfalls ein neuer Weg für Rituale. In Ten Candles wird zu Beginn des Spiels von allen Mitspielenden eine Audio-Aufnahme privat aufgenommen über die eigenen Hoffnungen und Ideen. Am Ende sterben üblicherweise alle Figuren (es geht um eine Apokalypse). Zum Spielende werden die Aufnahmen gemeinsam angehört. In ViewScream 2 von Rafael Chandler, das man komplett In Character per Videochat spielt, hat jeder Charakter einen End-Monolog, der mit dem rituellen Ausloggen aus dem System endet (InGame wie OutofGame mittels Ausschalten von Mikro und Kamera). Wenn alle Kameras schwarz und stumm sind ist das Spiel beendet.

More to come

Ich bin sicher, dass wir noch viel mehr solche rituellen Ingredienzen in unseren Spielen in Zukunft finden werden. 

In meiner Stammgruppe haben wir peu a peu einige Elemente aus anderen Kontexten übernommen und in unsere aktuelle Kampagne (Sieben Gezeichnete, der Klassiker bei DSA) eingebaut. Bei einer von Spuk und Geistergestalten geprägten Session etwa vertrieben wir vor Spielbeginn die Geister aus unserem Spielort. Ja, wir sind tatsächlich mit Musikinstrumenten und allem was Krach macht durch die Wohnung gelaufen und haben die Ecken, in denen sich Geister mutmaßlich am liebsten aufhalten würden, vertrieben. Das war so wunderbar albern, dass wir uns danach bereit fühlten, den Geistern im Spiel auf die Pelle zu rücken („get the sillies out“). 

Mein "Gaming-Style" - mag die Vorliebe für Rituale erklären
Auch rituelle Phrasen sind meiner Ansicht nach hervorragend für den dauerhaften Einsatz zu gebrauchen: für den Spielbeginn wie für das Ende einer Sitzung, aber auch im Sinne von Fanmail oder um wie bei Archipelago einen Impuls für die Mitspielenden zu geben.
Eine sehr schöne Ritualisierung sind für mich auch Love Letters, mit denen ich zwischen Sitzungen etwas über das Spiel oder andere Figuren schreibe – und das dann zu Beginn oder zu passender Szene im eigentlichen Spiel vorlese. 

Aus dem Larp-Kontext genommen, aber hervorragend für das Spiel mit intensiveren Settings geeignet, empfinde ich rituelle Elemente von Debriefings. Beispielsweise wird empfohlen, sofort nach Spielende in die dritte Person zu wechseln, wenn man die sogenannten „War stories“, also die Geschichten, die der eigene Charakter erlebt hat, austauscht. Das schafft Distanz und erlaubt einen neuen Blickwinkel auf das eben Erlebte einzunehmen. Wie beim Epilog von Fiasco hilft es, wenn man ein beliebiges Objekt zur Hand nimmt und dieses als die eben noch gespielte Figur adressiert. „Das hier [dieser Bleistift] ist [mein Charakter]“ beschreibt man, und erzählt dann inwiefern man a) selber gerne mehr wie dieser Charakter wäre und b) was man überhaupt nicht leiden konnte an diesem Charakter.

Fazit

Es gibt noch einiges zu entdecken beim Thema Rituale im Rollenspiel. Einiges ist ikonisch für unser Hobby wie die Magie der Würfel, anderes hat jede Gruppe für sich gefunden. Im Design verankerte Elemente hat es ebenfalls schon lange gegeben, auch wenn sie eine Weile einen Ruf der Albernheit hatten und vermieden wurden. Dass die Szene inzwischen erwachsen genug ist, um sich wieder ernsthaft mit solchen Elementen zu beschäftigen und aus verwandten Szenen spannende Einflüsse kommen, gibt mir die Hoffnung, dass uns spannende Zeiten im Game Design bevorstehen.